SEED EXTRA

März 2022

HERZLICH WILLKOMMEN BEIM SEED-NEWSLETTER!

Liebe Leser:innen,

in diesen Tagen kommen mir oft die Tränen. Ich weine, wenn ich die Bilder des ukrainischen Fotografen Evgeniy Maloletka sehe, der die Zerstörung des Kinderkrankenhauses in Mariupol dokumentiert. Ich weine, wenn ich die Fotos der flüchtenden Familien in der Ukraine sehe, fotografiert durch die Fenster der Züge, mit denen sie in eine ungewisse Zukunft fahren. Das russische Online-Medium Meduza hat diese Foto-Reportage Leaving home veröffentlicht, als Teil ihrer Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine. Viele aus der Redaktion sind inzwischen selbst ins Exil geflüchtet, als Putin die Arbeit der letzten unabhängigen Medien in Russland mit neuen Repressionen nahezu unmöglich machte.

Jetzt kämpfen die Journalist:innen um das Überleben von Meduza, eine internationale Spendenkampagne soll es möglich machen (siehe unten – Kurzinterview Drei Fragen). Gut möglich, dass es klappt, dass sich genug Menschen für Meduza engagieren. Denn zumindest das gibt es: eine überwältigende Hilfsbereitschaft in Deutschland und Europa, großzügige Spenden, zivilgesellschaftliche Hilfsaktionen. Denn Tränen helfen ja nicht, was hilft sind Taten.

Als Büger:innen können wir den Flüchtenden helfen, die in Berlin oder anderswo aus ihren Zügen steigen. Als Journalist:innen können wir uns für unsere Kolleg:innen in der Ukraine, in Russland und im Exil einsetzen. Und natürlich müssen wir uns fragen: Wie recherchieren und berichten wir über das Geschehen? Gemeinnützige und oft spendenfinanzierte Medien haben darauf in den ersten Wochen des Kriegs ganz eigene Antworten gefunden. In dieser Extra-Ausgabe des SEED-Newsletters möchten wir einige davon zeigen, die uns besonders beeindruckt haben.

Herzliche Grüße

Thomas Schnedler

NEWS

+++ Medizinische Infos für Geflüchtete: Die Redaktion von MedWatch baut mit Hilfe von vielen ehrenamtlichen Übersetzer:innen ein Informationsangebot zu medizinischen Fragen für geflüchtete Menschen aus der Ukraine auf. Dabei geht es längst nicht nur um Corona-Regeln in Deutschland, sondern auch um manchmal lebenswichtige Informationen für Krebspatienten oder chronisch Kranke. Weitersagen! +++

+++ Hintergründe und Einschätzungen: Viele Wissenschaftsjournalist:innen schätzen die Dienste des Science Media Center schon lange. Spätestens jetzt sollten aber auch andere Ressorts auf das kostenlose Angebot aufmerksam werden, denn die Redaktion liefert regelmäßig umfangreiche Wissenspakete und damit auch Themenideen rund um den Krieg. Welche Auswirkungen hat der Konflikt auf die Ernährungssicherheit? Was tun ohne Gas, Öl und Kohle aus Russland? Profunde Antworten garantiert. Jetzt akkreditieren! +++

+++ Katapult: Zögerlich sind die Greifswalder nun wirklich nicht. Kurzerhand hat das für seine Karten und Infografiken bekannte Magazin ukrainische Journalist:innen eingestellt, die entweder gerade auf der Flucht sind oder noch in ihrer Heimat ausharren und über den Alltag im Kriegsgebiet berichten. Außerdem baut die Redaktion ein ukrainisch- und russischsprachiges Nachrichtenangebot auf, das etwa über Telegram die Menschen in beiden Staaten erreichen soll. Möglich ist das alles, weil ein Teil der Redaktion freiwillig auf Gehalt verzichtet. Stark! +++

+++ Wie kann ich helfen? Damit dieser Impuls nicht ins Leere läuft, ordnen und kuratieren etliche Organisationen inzwischen Informationen zum Krieg und zu Geflüchteten. Netzwerk Recherche sammelt beispielsweise Hilfsangebote für Journalist:innen und Recherche-Ressourcen. Dabei sind Ratgeber vom Global Investigative Journalism Network zur Kriegsberichterstattung oder ein 10-Punkte-Papier vom Dart Center zum ehthisch angemessenen Umgang mit Kindern in der Recherche. Für Bürger:innen hat die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt eine sehr gute Überblicksseite zusammengestellt. +++

+++ Jetzt bewerben: Das Goethe Institut in Belgien lädt im Rahmen eines Residenzprogramms zu einem vierwöchigen Forschungs- und Rechercheaufenthalt zum Thema „Nachhaltigkeit – Desinformation“ nach Brüssel ein. Dabei kann es zum Beispiel um die Bedrohungen gehen, denen sich Journalist:innen und Medien gegenübersehen. Bewerbungsschluss ist der 28. März. Reporter ohne Grenzen sucht kurzfristig Unterstützung in der Pressestelle für den Schwerpunkt Osteuropa (Ukraine, Russland, Belarus) – befristet auf drei Monate. +++

DREI FRAGEN

Die Redaktion von Meduza gehört zu den letzten unabhängigen Stimmen Russlands. Der Kreml versucht alles, um sie und andere zum Schweigen zu bringen. Seit dem 4. März war die Website gesperrt, ehe Reporter ohne Grenzen sie im Rahmen der Aktion „Collateral Freedom“ wieder zugänglich machte. Meduzas Deutschland-Korrespondent Dmitry Vachedin über die Arbeit der Redaktion im Exil, Geldnot und die von den Krautreportern unterstützte Rettungsaktion.

Lieber Dmitry, Du berichtest als Korrespondent aus Deutschland für das russische Exil-Medium Meduza. Russland hat nun den Zugriff auf Eure Webseite blockiert, es drohen hohe Haftstrafen für Berichte über den Krieg, die nicht der Kreml-Linie entsprechen. Wie sieht Deine Arbeit und die Deiner Kolleg:innen im Moment aus?

Die aktuellen Gesetze machen die Berichterstattung über den Krieg von Russland aus unmöglich – gut, dass die ganze Infrastruktur von Meduza außerhalb von Russland liegt. Es bleiben die Menschen, sie müssen aus Russland evakuiert werden. Dieser Prozess läuft, viele sind in die Transitländer geflüchtet, wo sie auf europäische Visa warten. Wer das Land noch nicht verlassen hat, macht es jetzt gerade, weil es einfach zu riskant ist: Normal in diesem Beruf zu arbeiten heißt jetzt, in Russland ein Verbrechen zu begehen. Wichtig ist aber, dass Meduza ununterbrochen weiter arbeitet – es hat für keinen einzigen Tag eine Pause gemacht.

Vor gut zwei Jahren, bei der Global Investigative Journalism Conference in Hamburg, hat Dein Kollege Alexey Kovalev berichtet, wie schwierig die Arbeit mit der Exil-Redaktion in Riga bereits war. Später wurde Meduza in Russland sogar als „ausländischer Agent“ eingestuft. Wie habt Ihr es seitdem geschafft, trotzdem zu recherchieren und zu berichten?

Meduza hat überlebt, weil wir immer vom Schlimmsten ausgehen, es ist die Community der Pessimisten, und die Pessimisten sind normalerweise immer gut vorbereitet. Der größte Schlag war die Erklärung zum „ausländischen Agenten“ vor einem Jahr, die das erfolgreiche Finanzierungsmodell durch Werbung zerstört hat. Seitdem ist klar: Es ist ein Krieg und es wird immer schlimmer.

Meduza hat dann versucht, diese absurde Gesetzgebung zu befolgen, das heißt, unsere Texte wurden mit einer speziellen Markierung ergänzt. Viel wichtig war, dass diese Texte zensurfrei blieben. Das Motto war: Okay, selbst mit dieser blöden Markierung schreiben wir die Wahrheit. Zunehmend, zum Jahreswechsel, waren praktisch alle freien Medien im Lande „ausländische Agenten“, so dass man diese Markierung einfach nicht wahrgenommen hat – das Auge hat sich daran gewöhnt. Es wurde, wenn schon, als ein Qualitätsprädikat verstanden.

Seit heute läuft eine internationale Spendenkampagne zur Unterstützung von Meduza. Warum ist das nötig – und wie kann man Euch helfen?

Es ist schon das zweite Mal innerhalb eines Jahres, dass unser Finanzierungsmodell zusammenbricht. Zuletzt hat Meduza vom Crowdfunding gelebt, also vom Geld der Leser. Es gab keine Paywall, alle Texte waren frei zugänglich, jedem war klar, dass wir nur existieren können, wenn es genug Leser gibt, die unsere Arbeit toll finden. Das war immer der Fall. Doch vor ein paar Tagen musste Meduza die Spendenannahme aus Russland stoppen: Erstens wurde es gefährlich für unsere Leser dort, zweitens hat sich das russische Bankensystem aufgrund der Sanktionen abgeschottet.

Dabei sind wir in viel besserer Lage als unsere Kollegen von Doschd oder Echo Moskwy, die schließen mussten: Wir machen weiter, wir sind gut vorbereitet und ausgestattet, fast alle Kollegen sind in Sicherheit (oder befinden sich auf dem Weg dorthin), wir müssen nur Geld finden, um russische Spenden zu ersetzen. Es geht dabei nicht um unsere persönlichen Schicksale – wir sind alle Profis und schaffen es auch in Europa einen guten Job zu finden. Es geht darum, dass Millionen unserer Leser in Russland nicht das Gefühl haben, wir haben sie alleine gelassen – im Dunklen.

Dmitry Vachedin kommt aus Sankt Petersburg, hat in Mainz Politikwissenschaft und an der Filmuniversität Babelsberg Drehbuch studiert, hat ein Buch veröffentlicht („Engel sprechen Russisch“, 2017 DVA-Verlag), als Journalist für die Deutsche Welle und viele andere Medien gearbeitet. Für Meduza schreibt er in Normalzeiten über Deutschland und Europa, jetzt macht er alles, was notwendig ist. (ts)

AUSLESE

KRIEGSERKLÄRER

Nie war die Expertise der Fachredaktion Dekoder nötiger

Die Russland-Expert:innen von Dekoder beleuchten den Konflikt aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Dafür kuratieren sie Analysen, Artikel und Hintergründe aus russischen, ukrainischen, belarussischen, deutschen und englischen Medien. Außerdem sammelt die Redaktion in einem FAQ zentrale Fragen zum Krieg und lässt sie von Wissenschaftler:innen beantworten. Unersetzliche Wissensquelle in diesen Zeiten.

SANKTIONEN AUF EINEN BLICK

Wenn Open Data, Civic Tech und gemeinnütziger Journalismus verschmelzen

Mit dem Sanktionstracker von Correctiv wird laufend analysiert, wer wann welche Sanktionen gegen russische Unternehmen, Institutionen oder Personen verhängt hat. Die Darstellungen basieren auf den Daten des Projekts OpenSanctions, das im Prototype Fund der Open Knowledge Foundation gefördert wurde. Friedrich Lindenberg, der das Tool entwickelt hat, beschreibt seine Ziele und sein Vorgehen in einem aufschlussreichen Projektbericht: Sanktionen stellen demnach „eine Art quantifizierte Geopolitik dar: Sie dokumentieren in ungewöhnlicher Klarheit, welche außenpolitischen Ziele unterschiedliche Staaten verfolgen.“

QUERQUARK

Monitoring der Russland-Berichterstattung der „alternativen“ Medien

Wie berichten RT Deutsch, reitschuster.de und andere über den russischen Angriff auf die Ukraine? Spannende Einblicke ermöglicht das Projekt „Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine“. So setzt sich beispielsweise der Blogger Boris Reitschuster zur Überraschung seiner Anhänger:innen sehr kritisch mit russischer Propaganda und dem Angriffskrieg auseinander. „In zwei Wochen verlor Reitschuster auf Telegram über 15.000 Abonnenten“, heißt es im März-Monitoring des Zentrums Liberale Moderne (LibMod) in Berlin, das von Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet wurde.

BIS ZUM BITTEREN ENDE

Der Überlebenskampf ukrainischer Journalist:innen

In der Ukraine gibt es viele kleine, unabhängige Redaktionen, die zu Themen recherchieren, die in den klassischen Medien nicht vorkommen. Der Guardian beschreibt den Überlebenskampf von Zaborona – im übertragenen, aber eben auch im wahrsten Sinne des Wortes. Die 2017 in Kiew gegründete Redaktion, die ihre Artikel auch auf Englisch veröffentlicht, baut gerade in Lwiw nahe der polnischen Grenze ihr neues Hauptquartier auf. Dort fließen Berichte und Fotos aus dem ganzen Land zusammen, denn noch sind viele Reporter:innen im Land geblieben. Um schusssichere Westen und andere lebenswichtige Ausrüstung für sie zu besorgen, hat die Redaktion eine eigene Spendenaktion gestartet.

NOT MY CUP OF TEA

Wie Großbritannien internationale Sanktionslisten ignorierte

Wie konnten russische Oligarchen in Großbritannien trotz bestehender Sanktionen nahezu ungehindert schalten und walten und ihr Geld mit vollen Händen ausgeben? The Bureau of Investigative Journalism hat im Rahmen seines Rechercheprojekts The Enablers 15 einflussreiche Russen aufgespürt, die seit Jahren auf internationalen Sanktionslisten standen und in England trotzdem Luxusimmobilien erwarben, ihre Kinder auf die besten Privatschulen des Landes schickten und wohl im Einklang mit britischem Recht Firmengeflechte betrieben, mit denen ihr Reichtum noch wuchs.

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Hast Du kürzlich eine spannende Recherche von einer gemeinnützigen Redaktion gelesen? Hast Du Ideen, wie wir SEED weiterentwickeln können? Fehlt etwas? Schreib uns dazu eine E-Mail, wir freuen uns über Hinweise und Feedback.

IMPRESSUM

Herausgegeben von Netzwerk Recherche e.V.

Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin

Telefon: 030 49854012
www.netzwerkrecherche.org

Kontakt: seed@netzwerkrecherche.de

Vertretungsberechtigte Vorstandsmitglieder: Daniel Drepper, Christina Elmer, Frederik Richter

Eingetragen im Vereinsregister des Amtsgericht Charlottenburg, Vereinsnummer VR 32296 B.

Redaktion:
Anna Poth (ap), Dr. Thomas Schnedler (ts), Malte Werner (mw)

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Der SEED-Newsletter ist Teil des NR-Projekts zum Nonprofitjournalismus, das von der Schöpflin Stiftung gefördert wird.